Das Interview

Interview mit Frau Dr. med. Silvia Müller-Gongoll

Frau Dr. Müller, was bereitet Ihnen besondere Freude? Was macht Sie glücklich?

Ich lese wahnsinnig gerne. Viele verschiedene Sachen, ich habe einen ganz wilden Geschmack. Ob Belletristik oder Sachbuch und egal welches Thema – wenn es schön geschrieben ist und einen guten Spannungsbogen hat, lese ich es gerne.

Würden Sie uns bitte etwas über das Leben in Ihrem Mehr-Generationen-Projekt erzählen?

Ich würde unsere häusliche Situation gar nicht unbedingt als Projekt bezeichnen. Es hat sich einfach so ergeben. Die Eltern meines Manns Frank leben schon lange hier auf ihrem alten Bauernhof. Frank hat sich tatsächlich den alten Schweinestall um- und ausgebaut, das ist wie ein eigenes Haus auf dem Hof. Dorthin sind wir nach unserer Heirat gezogen und ziehen hier auch unsere Kinder groß, sodass wir eben insgesamt als drei Generationen auf diesem Hof leben. Das passt für alle gut. Ich komme mit meinen Schwiegereltern sehr gut klar und es ist natürlich auch total schön, jemanden da zu haben, der sich um die Kinder kümmern kann. Für meinen Job war das unheimlich wichtig, denn als Arzt oder Ärztin kann man sonst nun mal nicht arbeiten. Und die Kinder profitieren auch davon: Es ist immer jemand da und es gibt leckeres Essen von der Oma, die übrigens wesentlich besser kochen kann als ich. Es ist ein schönes Zusammenleben.

Das ist natürlich auch der Charme einer ländlichen Umgebung, dass so etwas leichter umzusetzen ist. In einem städtischen Umfeld wäre das sicher schwieriger.

Leben Sie denn auch das ländliche Leben, mit Tieren beispielsweise?

Das ist witzig: Immer, wenn mich jemand fragt, ob wir Tiere haben, sage ich zunächst spontan "nein". Tatsächlich haben wir Hühner, aber die hat hier irgendwie jeder, deshalb vergesse ich sie manchmal.

Waren nicht auch mal Ziegen im Gespräch?

Ja, das war mal eine Idee. Platz genug wäre ja da, aber mit Kindern und Job ist man ja auch so schon ganz gut beschäftigt. Vielleicht später mal.

Übrigens wurden mir in meinem ersten Jahr hier als Geschenk für einen Hausbesuch schon mal Hühner angeboten. Landarzt pur!

Würden Sie, wenn Sie die Wahl hätten, diese Mehr Generationen-Idee nochmals verwirklichen oder jemand anderem dazu raten?

Ganz eindeutig: ja. Die Bedingungen müssen natürlich stimmen: Man sollte sich sympathisch sein und man sollte sich aus dem Weg gehen können. Dann können alle Beteiligten ungemein profitieren. Ich liebe es, einfach mal auf einen Kaffee kurz rübergehen zu können, und Geschichten, Ratschläge und Ideen von der älteren Generation zu bekommen. Oder wenn man ein Paket oder einen Handwerker erwartet – es ist einfach eine riesengroße Erleichterung im Alltag, wenn immer jemand da ist.

Aber es muss auf jeden Fall harmonieren. Wenn das Zusammenleben nicht harmonisch ist, stelle ich es mir als die Hölle auf Erden vor, schlimmer noch als mit schwierigen Nachbarn.

Wir sind jetzt eigentlich schon sehr nah an meiner nächsten Frage dran: Wie vereinbaren Sie Beruf und Familie? Ich habe Sie und Ihre Praxis und Ihren Mann kennengelernt und denke doch, dass es sehr fordernd ist, diese Lebensbereiche zu vereinen.

Inzwischen läuft es schon allein dadurch relativ gut, dass die Kinder einfach größer sind. Wir haben ja bei uns die besondere Situation, dass eines unserer Kinder schwerbehindert ist, Autist ist. Der andere Sohn ist fünfzehn und pubertiert. Bei beiden ist es schon eine jeweils eigene Herausforderung, sie zur Schule fertigzubekommen. Ich sehe das als eine gute Gelegenheit, am Morgen schon die Aggression für den Tag loszuwerden. Das ist durchaus auch mal lautes An-Türen-Treten. Das kennen wir. Das ist nicht schlimm, da fühlt sich auch keiner herabgesetzt. Aber anders kriegen wir einen pubertierenden und einen autistischen Jungen einfach nicht rechtzeitig fertig für die Schule.

Wir haben eine Zeitlang versucht, gemeinsam morgens zu frühstücken. Das funktioniert aus verschiedenen Gründen nicht. Die Kinder wollen tatsächlich morgens nicht so essen und nehmen lieber was mit in die Schule.

Daher ist es bei uns morgens im Moment eher so ein Treffen für allgemeine Schnelltests. Wir fragen noch, ob sie alles dabeihaben und dann starten sie mit dem Fahrrad zu Schule. Ich schaffe es gerade so, sie noch rausfahren zu sehen. Dann muss ich mich beeilen, weil um 8 Uhr die Sprechstunde beginnt.

Wenn ich dann in der Praxis arbeite, dann bin ich auch raus für den Tag. Ich weiß, die Kinder kommen nach Hause, kriegen Essen bei der Oma, und machen dann hoffentlich Hausaufgaben. Und abends irgendwann, da kommt man nach Hause und ist eigentlich bettfertig. Das ist im Moment so der Arbeitstag. Also da ist relativ wenig Familienzeit. Man sieht sich morgens mal kurz und manchmal abends. Nicht immer, denn tatsächlich sind die Jungs so selbstständig, dass sie häufig in den Zimmern sind und " ihr Ding" machen.

Kommt denn bei Ihnen manchmal eine Sehnsucht auf, dass Sie nicht wie andere um 15 Uhr Feierabend haben und dann den Nachmittag und Abend mit Ihren Kindern bzw. mit der Familie verbringen können?

Ich denke, zum jetzigen Zeitpunkt mit einem Dreizehnjährigen und einem Fünfzehnjährigen sind wir darüber hinaus. Das ist eher ein Thema, wenn die Kinder sechs, sieben, acht Jahre alt sind. Da hatte ich schon teilweise die Sorge, etwas zu verpassen bzw. fand es nicht schön, so lange weg zu sein. Aber wenn die Kinder erst mal in so einem Alter sind wie unsere, ist das mit dem Familienleben ohnehin nicht mehr so, dass man alles gemeinsam macht. Insofern bin ich da zum jetzigen Zeitpunkt eigentlich ganz gelassen.

Es kann natürlich sein, dass unsere Kinder sich irgendwann einmal bei einem Therapeuten ausweinen, weil sie das Gefühl hatten, doch vernachlässigt zu werden und die Eltern mehr Job als Kinder wollten. Ich glaube aber nicht, dass unsere Kinder das Gefühl haben, dass sie nicht geliebt werden. Das haben wir eigentlich immer ganz klar gemacht. Es ist halt alles ein bisschen unabhängiger, ein bisschen freier. Und Familienleben ist ja durchaus auch da, eben auch durch die Großeltern. Und wenn mal was wäre, da sind wir ganz klar, dann sagen wir beruflich alles ab und sind bei unseren Kindern. Das haben wir immer schon so gemacht. Wenn irgendwas wirklich wichtig ist, dann haben die absolut und zu 100 Prozent Vorrang. Da kann alles andere dann hinten anstehen.

Vielen Dank für die ausführlichen Antworten. Meine nächste Frage ist eine sehr große: Was würden Sie in der Welt verändern, wenn Sie könnten?

Ganz spontan? Ich möchte, dass die Leute lernen und Wissen erwerben können. Mich ärgert es ungemein – im Corona-Zusammenhang, aber auch unabhängig davon –, wenn manche Menschen an allen Wissensquellen vorbei sagen: Ich fühle, dass das so ist, und ich lasse auch nichts anderes zu. Ich würde gerne allen Menschen auf der Welt das offene wissenschaftliche Denken zugänglich machen: verschiedene Sachen in den Kopf reinzunehmen, zu gucken was kann man nachprüfen und wie kann man es nachprüfen. Also das würde ich, wenn es irgendwie geht, allen Menschen auf der Welt so zugänglich machen, dass sie niederschwellig erreicht werden können. Ich würde mir eine Änderung im Mindset wünschen: Die Menschen sollen wieder neugierig werden, sollen hinterfragen und offen bleiben für andere Standorte.

Was hat sich seit und mit dem Corona-Management in Ihrer Praxis am stärksten verändert?

Klingt vielleicht komisch, aber am stärksten hat sich aus meiner Sicht das geändert, was ich die Leichtigkeit des Seins nenne. Wir mussten ganz viel umstellen: Infektsprechstunden mit eigenem Raum, Schutzkleidung, später die Impfungen etc. Aber auch diese Sorge, dass jeder der hustet oder Augenringe hat, eventuell einen schlimmen Virus in sich trägt, das ist doch ein anderes Grundgefühl in der Begegnung mit Menschen. Inzwischen haben wir uns alle ja ein bisschen daran gewöhnt und gehen lockerer damit um. Aber wir müssen doch vorsichtig bleiben und wissen ja auch, wir können Impfdurchbrüche bekommen und ich könnte vielleicht doch einen Chemo-Patienten anstecken. Und diese seelische Energie, die da reingeht, dieser Verlust an Unbeschwertheit, das ist für mich die größte Veränderung.

Und das wird noch lange so bleiben. Das Tragen von FFP2-Masken, die ganzen Sicherheitsstandards – das wird in den Arztpraxen sicher zuletzt aufgehoben, weil hier eben auch die Schwächsten der Gesellschaft sind: Achtzig- oder Neunzigjährige, Chemo-Patienten usw.

Und was erwarten Sie jetzt im Herbst für Ihre Praxis?

Das wird richtig, richtig hart. Wir haben naturgemäß Grippeimpfsaison. Die kommt jetzt ab Ende September. Wir haben Corona-Auffrischungsimpfungen plus die letzten, die noch ihre erste und zweite Impfung haben möchten. Und wir werden bei uns in der Gemeinde absoluten Ärztemangel kriegen. Das wird eine ganz große Katastrophe werden in dieser schweren Zeit. Und wir werden natürlich wieder Infektsprechstunden aus der Hölle haben. Das sehen wir jetzt ja schon an den steigenden Zahlen. Da werden die Leute deutlich mehr kommen

Ich finde es gut, dass die Inzidenzzahl nicht mehr so die Rolle spielen soll wie beispielsweise die Krankenhausbetten-Belegung. Das ist durchaus ein Schritt in die richtige Richtung. Denn wenn viele Geimpfte mit leichtem Verlauf dabei sind, braucht uns eine hohe Inzidenzzahl nicht mehr in dem Maße zu interessieren. Allerdings sehe ich das für den ambulanten Bereich trotzdem als Problem, denn gerade von den leichten Verläufen werde ja die allermeisten ambulant betreut. Und da habe ich das Gefühl, dass das für den ambulanten Bereich gar nicht mehr richtig zu schaffen ist. Es fühlt sich an, als würde man vor einem sehr, sehr großen Berg stehen und hätte keine passende Ausrüstung dabei.

Was würde Ihnen denn konkret helfen?

Klare Ansagen und Vorgaben. Wer wird wann getestet, wer bekommt wann eine Auffrischungsimpfung – wenn wir Hausärzte da von oben eine sehr klare und sinnvolle Ansage bekommen, erspart uns das sehr viel an Diskussion. Und das rechtzeitig, damit wir Zeit haben, die Sachen umzusetzen.

 

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